Das Betreuungsgeld ist eine falsche Weichenstellung, die auf Jahre die Chancen von Kindern und Frauen verschlechtert. Es ist ein Hemmnis für gute Bildung, es ist ein Stolperstein für Integration, es ist eine Falle für Frauen – und es ist noch dazu eine Sackgasse für Fachkräfte.
Deshalb will es keiner – auch keiner von denjenigen, auf deren Urteil CDU und FDP sonst Wert legen: Nicht die Arbeitgeber, nicht die evangelische Kirche, nicht die Caritas, nicht der Familienbund der Katholiken und nicht der Landfrauenverband. Selbst 64% der CDU-Anhänger/-innen finden es falsch.
Die meisten Bürgerinnen und Bürger halten stattdessen Verbesserungen des Kinderbetreuungsangebots für erforderlich. Sie wissen: Uns fehlen noch Kitaplätze, wir müssen die Betreuungsqualität verbessern und die Öffnungszeiten ausweiten. Deshalb wollen sie – genauso wie wir – zusätzliche Mittel in Kitas investieren – und nicht in eine Stillhalteprämie für Horst Seehofer.
1. Die SPD steht zum Rechtsanspruch und zum Kitaausbau
In der Debatte ums Betreuungsgeld sind Unterschiede zwischen der SPD und den Konservativen sehr deutlich geworden: Wir stehen zu Chancengleichheit, zu Bildungschancen von Anfang an, zu Integration und zur Gleichstellung von Frauen und Männern. Deshalb setzen wir uns für die fristgerechte Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem ersten Geburtstag zum 01.08.2013 ein. Mit dem Betreuungsgeld sabotiert die Bundesregierung auch den Kitaausbau. Denn es ist völlig absurd, dass der Bund erst mit Milliarden zusätzliche Betreuungsplätze in Kitas und Kindertagespflege schafft – und die Regierung Merkel dann eine Prämie für die Nichtinanspruchnahme dieses Angebots aussetzt! Den Kommunen wird so jede Planungssicherheit genommen. Wir setzen konsequent weiter auf den Ausbau der Infrastruktur und wollen die Mittel, die für das Betreuungsgeld verschwendet werden sollen, hier investieren. Den quantitativen Ausbau wollen wir mit einer Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Bildung verbinden. Hierzu haben wir den SPD-Aktionsplan „Kitaausbau vorantreiben – Rechtsanspruch sichern“ vom 21. Mai 2012 und unser Antrag „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“ (Drs. 17/9572) verabschiedet. Den Eltern in Deutschland drückt der Schuh, weil sie keinen Betreuungsplatz finden, die Qualität nicht stimmt oder die Öffnungszeiten nicht passen. Hier haben wir immer noch Nachholbedarf. Erst, wenn wir über ein bedarfsdeckendes Angebot verfügen, haben Eltern Wahlfreiheit. Erst dann sind sie frei, sich für ein Leben mit Kindern und Erwerbstätigkeit zu entscheiden.
2. Rund 70% der Bürgerinnen und Bürger lehnen das Betreuungsgeld ab
Die Ablehnung des Betreuungsgeldes ist groß und durch die Debatten der letzten Monate sogar noch gewachsen. Es ist klar geworden, dass das Betreuungsgeld keine Leistung zugunsten von Kindern und Eltern ist, sondern lediglich eine Stillhalteprämie für Horst Seehofer und seine CSU. In unserer Ablehnung wissen wir zahlreiche Sozialverbände, Kinder- und Jugendorganisationen, Frauenorganisationen, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und die evangelische Kirche an unserer Seite. Auch das partei- und verbändeübergreifende Aktionsbündnis „Nein zum Betreuungsgeld“ (www.neinzumbetreuungsgeld.de) zeigt, wie groß der Widerstand gegen die unsinnige Politik von Schwarz-Gelb ist.
3. Das Betreuungsgeld spaltet die Elternschaft
Das Betreuungsgeld singt das Hohe Lied auf private oder familiäre Betreuung. Denn Betreuungsgeld bekommen nur diejenigen Eltern nicht, die ihr Kind von einer öffentlich geförderten Kita oder Tagespflegeperson betreuen lassen. Alle anderen erhalten Betreuungsgeld, und zwar unabhängig davon, ob das Kind durch die Eltern selbst, die Großeltern oder Au-Pairs betreut wird. Mit Betreuungsgeld vereinbar ist auch die Betreuung durch eine Tagesmutter oder einen Tagesvater, Hauptsache sie sind nicht öffentlich vermittelt und gefördert. Absurd ist obendrein, dass auch der Besuch einer Betriebskita, die nicht öffentlich gefördert wird, mit dem Bezug von Betreuungsgeld vereinbar ist. Damit machen CSU und CDU mit dem Betreuungsgeld einen Konflikt neu auf, der doch längst überwunden sein sollte: den Konflikt zwischen familiärer Betreuung und institutioneller Förderung. Sie spalten die Eltern in solche, die ihr Kind selbst betreuen oder ein privates Betreuungsarrangement wählen, und andere, die einen Platz in einer öffentlichen Einrichtung gefunden haben. Dabei betreuen und erziehen alle Eltern ihre Kinder gleichermaßen. Und die allermeisten Eltern machen das mit viel Liebe und Verantwortung.
Die Anrechnung des Betreuungsgelds bei Sozialleistungsempfängerinnen und -empfängern vertieft diese Spaltung noch einmal. Außerdem ist sie ungerecht, rechtlich problematisch und widersprüchlich. Denn wenn das Betreuungsgeld laut Gesetzentwurf der „Anerkennung und Unterstützung der Erziehungsleistung der Eltern“ dienen soll, ist nicht nachvollziehbar, warum die Erziehungsleistung von Eltern, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind, nicht anerkannt werden soll. Hier spaltet die Bundesregierung einmal mehr in „oben“ und „unten“.
4. Gute Betreuungsqualität bleibt auf der Strecke
Eltern werden darin bestärkt, auf öffentlich geförderte Einrichtungen der frühkindlichen Bildung zu verzichten. Das hat fatale Folgen: Kinder werden von der Teilhabe an frühkindlicher Bildung ferngehalten. Die bisherigen Anstrengungen zur Qualifizierung der öffentlich geförderten Kindertagespflege werden durch das Betreuungsgeld ebenso konterkariert wie die in den vergangenen Jahren seitens des Bundes, der Länder und Kommunen umgesetzten Maßnahmen für mehr Qualität in Kitas. Auch die kontinuierlichen Verbesserungen im Bereich des Kinderschutzes in öffentlich geförderten Einrichtungen werden mit einer Leistung, die an die Bedingung geknüpft ist, keinen öffentlich geförderten Platz in Anspruch zu nehmen, ihrer Wirkung beraubt. Das Betreuungsgeld ist eine Fehlinvestition. Die über Jahre geförderten Ver-besserungen der Qualität im Bereich der frühkindlichen Bildung werden ad absurdum geführt. Das Betreuungsgeld ist außerdem eine Beleidigung für all die Frauen und Männer, die im Bereich der öffentlichen Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege gute und engagierte Arbeit leisten!
5. Das Betreuungsgeld erschwert Integration
Das zeigt einmal mehr die aktuelle OECD-Studie „Jobs für Immigrants“, die am 11. Juni 2012 in Paris vorgestellt wurde. Zum gleichen Ergebnis kommt die Studie von Anne Lise Ellingsæter im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung „Betreuungsgeld. Erfahrungen aus Finnland, Norwegen und Schweden“ vom April. Das Betreuungsgeld hält vor allem Mütter mit Migrationshintergrund von Erwerbstätigkeit ab, es erschwert den frühen Kitabesuch ihrer Kinder. Wie wichtig frühe Förderung in Kitas und der dortige Erwerb der Landessprache ist, ist mittlerweile Allgemeingut. Das weiß selbst die Bundesregierung. Deshalb gibt sie rund 400 Mio. Euro im Zeitraum von 2011 bis 2014 für die Sprachförderung in Schwerpunktkitas in sozialen Brennpunkten aus – eine richtige Maßnahme, die aber mit dem Betreuungsgeld ins Leere läuft.
6. Das Betreuungsgeld ist eine Falle für Frauen
Das Betreuungsgeld erschwert die Erwerbstätigkeit, auch wenn es nicht an die Aufgabe der Erwerbstätigkeit, sondern lediglich an die Nichtinanspruchnahme eines öffentlich geförderten Betreuungsangebots geknüpft ist. Vor allem für Frauen im mittleren bis niedrigen Einkommensbereich wird ein Anreiz geschaffen, auf einen Platz in einer Kita oder Kindertagespflege zu verzichten, das Kind selbst zu betreuen und auf Erwerbseinkommen zu verzichten. Denn so fallen auf der einen Seite keine Elternbeiträge für einen Platz an, auf der anderen Seite wirken das Ehegattensplitting und zusätzlich noch die 150 Euro Betreuungsgeld. Das Betreuungsgeld ist somit ein zusätzlicher finanzieller Anreiz, mehrere Jahre aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Das wirkt sich negativ auf berufliche Entwicklung, Einkommen und letztlich auf die Rentenhöhe von Frauen aus. Damit konterkariert das Betreuungsgeld Elterngeld und Kitaausbau. Denn sowohl die Einführung des Elterngelds als auch der Kitaausbau haben die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die partnerschaftliche Arbeitsteilung von Eltern zum Ziel. Tatsächlich hat beides bereits Wirkung entfaltet. Mütter kehren nach der Geburt eines Kind früher in den Beruf zurück. Und immer mehr Väter nehmen die Partnermonate beim Elterngeld in Anspruch und beteiligen sich häufig dauerhaft stärker an der Familienarbeit. Das Betreuungsgeld leitet hier die Kehrwende ein, indem es Geschlechterverhältnisse retraditionalisiert. Scheinheilig ist obendrein, wenn die Bundesregierung am 05. Juni zum Fachkräftegipfel einlädt und von den ungenutzten Potenzialen, die in der Erwerbstätigkeit von Frauen liegen, schwadroniert. Und wenige Tage später mit dem Betreuungsgeld eine Prämie auslobt, die diesem Ziel entgegenläuft!
7. Verfassungsrechtliche Bedenken
Last but not least ist das Betreuungsgeld auch „verfassungsrechtlich prekär“, so das Fazit von Prof. Dr. Margareta Schuler-Harms in einem Gutachten über das Betreuungsgeld für die Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2010. Auf solche verfassungsrechtliche Bedenken haben wir bereits in zwei Anträgen hingewiesen: „Auf die Einführung des Betreuungsgeldes verzichten“, Drs. 17/6088 und „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“, Drs. 17/9572. Die Bedenken sind nicht ausgeräumt und werden derzeit intensiv geprüft. Die von Olaf Scholz angekündigte Verfassungsklage ist richtig. Sie ist ultima ratio, wenn das Betreuungsgeld politisch nicht verhindert werden kann.
Quelle: SPD-Bundestagsfraktion, Juni 2012.