Der Bedarf nach Wohnraum in Deutschland steigt stark an. Durch die hohe Anzahl der Flüchtlinge verschärft sich die Lage zusätzlich. Etwa 400.000 Wohnungen müssen pro Jahr gebaut werden. Weniger Regeln, niedrigere Standards, moderner Fertigbau: Florian Pronold, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesbauministerium, will das Bauen drastisch vereinfachen. In einem Interview stellte er sich den Fragen der Süddeutschen Zeitung.

SZ: Vor gut eineinhalb Jahren hat Ihr Ministerium das Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen ausgerufen. Viele Ergebnisse gibt es aber noch nicht. Ist das Bündnis nur eine Plauderrunde?

Florian Pronold: Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben zum Beispiel die Wohnraumförderung verdoppelt. Wir haben in der Koalition entschieden, bald steuerliche Anreize für den Neubau zu schaffen. Und wir haben erreicht, dass der Bund seine Grundstücke nicht mehr zum Höchstpreis abgibt. Das sind alles Dinge, die jetzt umgesetzt werden. Der Bund geht voran.

Viele dieser Punkte wurden erst in der Flüchtlingskrise entschieden. Spielt Ihnen die aktuelle Situation in die Hände?

Manche Dinge sind der aktuellen Situation geschuldet. Das Wohnungsproblem gab es aber schon davor. Es ist oft so in der Politik, dass die richtigen Lösungen da sind, aber auf Widerstände stoßen. Die Dramatik der Wohnungssituation ist vielen erst durch die erhöhten Zuzugszahlen bewusst geworden – da ist es wichtig, dass man die richtigen Lösungen in der Schublade hat.

Warum hat es so lange gedauert, bis die Politik reagiert?

Weil man der Auffassung war, dass Wohnungspolitik in der schrumpfenden Gesellschaft kein Thema mehr ist. Man dachte, es gäbe kein Problem, und der Markt würde es schon richten. Mit der Föderalismusreform 2006 hat der Bund außerdem fast alle Zuständigkeiten an die Länder verloren. Das war ein grundlegender Fehler.

Warum?

Viele Länder haben falsche Prioritäten gesetzt. Sie haben mit den Wohnungsbaumitteln vom Bund zum Beispiel Unternehmen günstigere Zinsen angeboten. Aber kein Bauträger kommt auf die Idee, Sozialwohnungen zu bauen, nur weil die Zinsen ein bisschen niedriger sind. Günstige Zinsen bekommt er am freien Markt derzeit sowieso. Andere Länder haben mit dem Geld Eigenheime gefördert oder Schulden zurückgezahlt. Das alles hat dazu geführt, dass sich die Anzahl der Sozialwohnungen halbiert hat und nicht genügend neue Wohnungen gebaut wurden.

Ein großes Problem für viele Bauherren sind die langen Planungszeiten. Was muss gemacht werden, damit schneller gebaut werden kann?

Es gibt drei Ebenen, die das Bauen schwieriger gemacht haben: Den Bund, die Länder und die Kommunen. Auf allen drei Ebenen muss man jetzt radikal ansetzen, um zu echten Vereinfachungen zu kommen.

Radikal heißt auch, dass Standards gesenkt werden sollen?

Ja, darum geht es auch. Bei den Standards sind wir in vielen Punkten zu weit gegangen. Es sind viele kleine Dinge, die das Bauen unnötig kompliziert machen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In Berlin sind je nach Stockwerk unterschiedliche Höhen für Treppengeländer vorgeschrieben. Aber es ist immer gefährlich, herunterzufallen, egal aus welchem Stockwerk – wozu braucht man dann unterschiedliche Geländerhöhen? Das ist der Wahnsinn. Oder das Beispiel Emissionen: Je nach Art wird der eine Lärm laut Vorschrift draußen vor dem Fenster, der andere in der Wohnung gemessen. Das ist unsinnig und verhindert zum Beispiel, dass Wohnen und Arbeiten enger zusammenrücken. Gewerbegebiete sind heute ganz anders als in den Fünfzigerjahren, es gibt viel weniger Lärm und Dreck. Wir sollten viel stärker eine Mischung von Wohnen und Gewerbe zulassen.

Dies ist aber eine Entscheidung der Kommune. Wie kann der Bund das ändern?

Wir müssen im Bund den richtigen Rahmen geben. Das heutige Leitbild der Baunutzungsverordnung und des Baugesetzbuches mit abgetrennten Vierteln und der autogerechten Stadt kommt aus den Fünfzigerjahren. Heute ist es völlig veraltet. Die Lebensweisen der Menschen haben sich verändert.

Was heißt das für den Wohnungsbau?

Wenn wir bezahlbaren Wohnraum gerade in den Städten schaffen wollen, dann müssen wir mehr in die Höhe bauen, sowohl im Neubau als auch mit Nachverdichtungen im Bestand. Städte wie Paris oder Wien gehören zu den schönsten in Europa – erlauben aber die doppelte Geschossfläche. In Deutschland ist das nur mit Ausnahmen möglich. Die Baunutzungsverordnung sollte daher eine höhere Geschossflächenzahl ermöglichen. Natürlich gibt es dann immer noch Kommunen, die vor allem Ein- oder Zweifamilienhäuser bauen wollen. So werden wir das Wohnungsproblem aber nicht in den Griff kriegen.

Welche Vorschriften müssten noch verändert werden?

Es gibt Vorgaben, auf die man vollständig verzichten kann. Das Mobilitätsverhalten hat sich stark geändert, viele Menschen in der Stadt verzichten auf ein Auto. Warum ziehen wir daraus nicht überall die Konsequenzen, die Berlin und Hamburg gezogen haben? Diese Städte haben ihre Stellplatzverordnungen für den Wohnungsbau abgeschafft. Mit dem Verzicht auf eine Tiefgarage kann man die Kosten für den Wohnungsbau um 20 Prozent reduzieren.

In Deutschland wird nicht nur zu langsam und wenig, sondern auch zu teuer gebaut. Wie können vor allem bezahlbare Wohnungen entstehen?

Daran arbeiten wir derzeit in der Baukostensenkungskommission. In Europa wird in vielen Ländern mit niedrigeren Standards gebaut – und es geht auch. Die Standards sollen nicht pauschal heruntergeschraubt, aber gut überprüft werden. Da gibt es sicher eine Menge Sachen, die man weglassen kann – und die Häuser blieben dennoch modern, lebenswert und klimagerecht. Wir identifizieren mit der Kommission jetzt, sozusagen mit amtlichem Siegel, die größten Kostenfaktoren. Wir brauchen zum Beispiel auch eine einheitliche Bauordnung der Länder. Heute muss ein neuer Aufzug an 16 unterschiedliche Verordnungen angepasst werden – das kostet. So einen Quatsch muss man beseitigen. Viele bezahlbare Wohnungen schaffen wir außerdem nur mit einer seriellen Vorfertigung, also industriellem Bauen.

Das klingt nach DDR-Plattenbauten.

Nein. Der Fertighausbau von heute ist ja weit entfernt von dem, was man aus den Sechziger- oder Siebzigerjahren kennt. Er hat heute einen hohen qualitativen Standard. Es gibt Firmen, die machen Vorfertigungen in Ziegelbauweise. So können auch Mehrfamilienhäuser mit vorgefertigten Wänden hergestellt werden. Mit der seriellen Vorfertigung können sie bis zu 20 und 25 Prozent sparen.

Wird damit nicht jede Kreativität in der Städteplanung erstickt, wenn alle Städte ähnliche Siedlungen bauen?

Natürlich dürfen wir nicht die Fehler der Plattenbauten wiederholen. Aber bei diesem großen Wohnungsbedarf brauchen wir Gebäudetypen, die man überall schnell errichten kann. Wenn wir die Wohnungsnot in den Griff bekommen wollen, müssen wir das hinkriegen. Architektonisch muss das aber nicht heißen, dass wir einen Plattenbau 2.0 haben. Es gibt ja auch teilmodulares Bauen.

Könnten sich niedrigere Standards für Flüchtlingsunterkünfte auch insgesamt durchsetzen, weil man sieht, dass so schneller und ohne Abstriche bei der Qualität gebaut werden kann?

In bestimmten Bereichen könnte das ein positiver Nebeneffekt der aktuellen Situation sein. Es wäre aber ein Fehler, dauerhaften Wohnraum nur für Flüchtlinge zu schaffen. Es soll einen guten Wohnraum für alle geben. Industrielle Vorfertigung, Nachverdichtung, Absenkung von Standards in bestimmten Bereichen – mit all diesen Dingen kann man das hinkriegen.

Muss der Staat Grundstücke auch viel öfter unter Wert verkaufen, damit günstige Wohnungen entstehen können?

Das geht heute schon. Einige Kommunen machen Konzeptausschreibungen, das heißt, Grundstücke werden zum Beispiel verbilligt abgegeben, wenn die Käufer günstige Mietwohnungen bauen. Vor allem für Genossenschaften ist das ein gutes Modell. München ist da ein Vorbild. Auf Bundesebene ist das nun auch möglich.

Müssten auch die Unternehmen mehr machen? Muss es eine Renaissance von Betriebswohnungen geben?

Den klassischen Werkswohnungsbau wird es wohl nicht mehr geben. Das kann ich den Unternehmen auch nicht vorschreiben. Man muss bei Firmen wieder die Bereitschaft wecken. Wir müssen zum Beispiel wieder mehr privates Kapital in den sozialen Wohnungsbau kriegen.

Sind dafür Steuererleichterungen wie eine bessere Abschreibung nötig?

Ich bin ein glühender Verfechter einer steuerlichen Entlastung. Sie darf aber nicht die Fehler der Neunzigerjahre wiederholen, als man Privatanleger in den Ruin getrieben hat, die in Ostdeutschland Wohnungen gekauft haben, die keiner brauchte. Es wäre daher klug, die steuerliche Förderung auf angespannte Wohnungsmärkte und den Mietwohnungsbau zu konzentrieren. Ohne Steuerförderung werden wir den Anschub, den wir dringend brauchen, nicht hinkriegen.

Finden Sie es nicht ein wenig paradox, dass ausgerechnet Sozialdemokraten für eine Deregulierung und steuerliche Anreize sorgen müssen?

Ich habe damit kein Problem. Wir müssen ganz pragmatisch überlegen, was wir brauchen. Wir brauchen eine stärkere Verantwortung des Staates, aber das wird nicht reichen, um die Herausforderungen der nächsten zehn Jahre zu meistern. Wir müssen auch überlegen, was wir nicht brauchen. Es gibt zu viel Bürokratie und Auflagen. Im Wohnungsbau gibt es viel Unsinn, den man sich sparen kann. Und wenn man ein paar unsinnige Vorschriften wegnimmt und die Kosten stabilisiert, wäre das schon ein großer Schritt.

Quelle: Süddeutsche Zeitung